Ein bewegendes und bewegtes Jahr geht zu Ende. Für Valencias CEO und Partner Michael Gerber die Zeit, noch einmal zurückzublicken: ein ehrliches Resümee zu 2020 mit drei Erkenntnissen und einem Extra für alle Fans von guter Comedy, durchdachter Animation und dem grossen Drama.
Mitteleinsatz ist Willenssache
Die erste Erkenntnis, die 2020 noch einmal in aller Deutlichkeit hervorgebracht hat: Probleme, welche unsere Gesellschaft nicht als direkte Gefährdung von Leib und Leben anerkennt, werden nicht energisch genug, das heisst nicht mit den nötigen Mitteln bekämpft. So zum Beispiel das immense Umweltproblem des Mikroplastiks, der unter anderem unsere Meere zerstört (Mehr zu diesem Thema in meinem Jahresend-Beitrag von 2018). Dies wird langfristig mit grosser Wahrscheinlichkeit Millionen von Menschen das Leben kosten, aber eben erst irgendwann und vielleicht ja auch nicht nachweislich wegen genau dem Plastik. Langfristige Probleme fusionieren oft beim Skalieren mit anderen Problematiken. Damit ist dann der Todes-Verursacher nicht mehr ganz klar. Und somit die Verantwortung auch nicht mehr zuzuordnen. Darum können wohl auch keine Mittel frei geschaffen werden.
Hingegen durften wir im sich verabschiedenden Jahr das Phänomen Corona erleben. Hier war die direkte Bedrohung des Virus’ überprüfbar. Momentan liegt die Letalität – die «Tödlichkeit» einer Krankheit – von Covid-19 weltweit bei ungefähr 2.2 Prozent der Fälle (Stand 18. Dezember 2020, statista.com). Dabei gibt es grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Mexiko weist eine der höchsten Letalitäts-Quoten aus. Mehr als 9% der vom Virus Befallenen sterben daran. In Deutschland hingegen ist die Quote 1.72%. Wer nun denkt, klar, das hat mit dem Wohlstand und der damit einhergehenden medizinischen Versorgung zu tun, der hat noch nicht die letzte Zahl vernommen: Indien 1.45%! Also ich kann und will hier nicht lange auf die möglichen Gründe für die Differenz eingehen, bestimmt liegt es auch an der Anzahl der durchgeführten Tests, am Durchschnittsalter der Bevölkerung und der allgemeinen Gesundheit (Ernährung?). Aber. Was hier unverkennbar erkennbar ist: Alle Länder haben enorme Kosten auf sich genommen, um die Pandemie zu bekämpfen, egal in welchem Grad von wirtschaftlicher Entwicklung sie stecken. Gelder von denen wir vorher gar nicht wussten, dass sie existieren, geschweige denn, dass man diese loseisen kann, ohne das System zu kappen und für einen Notfall einsetzen kann.
Gemäss NZZ vom 28.11.2020 kostet Corona alleine die Schweiz 138 Milliarden Franken. Das ist mehr als 5x das Generationen-Infrastrukturprojekt NEAT mit dem Ausbau der Eisenbahntunnels Lötschberg, Simplon und Gotthard zu eigentlichen Hochleistungsgütertransitachsen. Oder um die Schweizer Klimaneutralität bis 2050 (Ziel des Bundesrates gem. Medienmitteilung vom 28. August 2019) zu erreichen, muss der Umbau des Energiesystems vorangehen. Dafür sind Investitionen von 109 Milliarden Franken notwendig: Es braucht Investitionen in Produktionsanlagen, Elektrofahrzeuge, Wasserstofffahrzeuge, Wärmepumpen, Wärmenetze, Gebäudesanierungen, Neubauten, Stromnetze und andere Infrastrukturen. Gleichzeitig birgt es gewaltige Einsparungen an Energiekosten in Höhe von 50 Milliarden Franken. Wir geben also netto «nur» 59 Milliarden in 30 Jahren aus, das macht 1.97 Mia pro Jahr. Also 2.5 mal weniger, als uns ein Coronajahr kostet. Im Unterschied zur Corona-Krise haben wir aber nachher eine neue saubere Infrastruktur zur Hand. Ja, nach 2020 darf man bei 59 Milliarden «nur» sagen. Wir wissen jetzt, dass es bei einer direkt sichtbaren Gefährdung der Einwohner möglich ist, ungeheuer kostspielige Eingriffe zu gestalten. Der Impact, der ausgelöst wird durch das Verschwenden unserer Ressourcen ist aber für die nachfolgenden Generationen ein unvergleichlich grösserer Schaden.
Wir sollten deshalb mutig die bekannten Probleme auf dieser Erde anpacken. Und uns nicht immer hinter Kosten verstecken. Das Suchen und Umsetzen von neuen technologischen Lösungen wird uns endlich weiter bringen beim Artenschutz, der Ernährung, in der Landwirtschaft, der Mobilität, bei Gebäudeheiz- und Kühlsystemen, der Arbeitsverteilung und vielem mehr. Wir müssen das nur wollen. Der Mitteleinsatz ist eine Willenssache.
Wertschöpfungsketten verschieben sich
Das bringt mich zum zweiten Thema. Die ungeheuerlichen technologischen Umbau-Schübe, welche das Corona-Jahr, wenn nicht hervorrief, so doch extrem beschleunigte. Teams war gestern noch der Plural für die englische Mannschaft. Heute ist es eine Plattform für effiziente Zusammenarbeit. Zoom war was beim Fotografieren. Jetzt ist es eine Cloud-Plattform für «easy video communication for entreprises». Skype kannte man als Schwiegermutter-Zuwink-Tool. Heute wird es auch für Brainstormings genutzt. Musste man bis vor kurzem als mittelständischer Betrieb unbedingt die Geschäftspartner in Südkorea physisch besuchen gehen, geht dies nun scheinbar mit einem Video-Call genauso gut, einfach effizienter und vor allem viel günstiger.
Die Frage ist: War dies eine nachhaltige Entwicklung? Falls ja: Allein das neue digitale Geschäftsreisen würde uns Einsparungen von CO2-Tonnen und Franken im Milliardenhöhe bringen. Aber es würde natürlich auch gewaltige Veränderungen in der Wirtschaft verursachen. Der ganze Businesstourismus mit seinen Geschäftshotels mit Konferenzräumen, fetten Spesenessen und dazugehörendem Bespassungsprogramm würde ausfallen. Die Flugindustrie müsste sich als Konsequenz darauf auch neu aufstellen. Aber wäre das nur schlecht? Verschiebungen der Wertschöpfungsketten finden in einem innovativen Zeitalter statt. Die Erfahrung zeigt uns, dass wer sie anstatt zu antizipieren verhindern will, rasch in Rückstand gerät. Neue digitale Geschäftsmodelle spriessen auch jenseits von Videokonferenzen wie Schneeglöckchen im Februar. Als Serienjunkie freut mich da natürlich besonders der Boom bei Netflix und Co. In einem Jahr, in dem es verpönt war, in den Ausgang zu gehen, konnte ich endlich ganz ohne schlechtes Gewissen zu Hause bleiben, meiner Sozialphobie frönen und das Serienuniversum erforschen. Dazu mehr im Bonuskapitel für Serienfans.
Ein radikales Projekt
Apropos Geschäftsmodelle: Wie fest trifft denn die beschleunigte Digitalisierung eine Kommunikationsagentur? Wir haben unabhängig von Corona bereits 2019 beschlossen, dass wir uns gänzlich neu organisieren wollen. Ausschlaggebend war das Studium des Geschäftsmodells von Inditex (siehe meinen Tweeks-Beitrag vom letzten Jahr) und meine Beobachtungen der Agilität und Effizienz der Fauna im Okavango-Delta. Unterschiedliche Strategien führen zu gänzlich verschiedenen Anpassungen der Arten an ihren sich während der Jahreszeiten extrem verändernden Lebensraum. Wir haben uns für Valencia vor allem die Überlebensstrategien der Jacanas, Kingfisher und Vultures genauer angeschaut. Aber das war nur ein Teaser! Erst im nächsten Jahr werde ich mal ausführlich darüber berichten.
Hingegen kann ich schon mal erzählen, wie wir gestartet sind mit unserem Okavango genannten Umbau-Projekt: am Montag, 16. März war der Startschuss. Radikal haben wir das Atelier aufgelöst. Und die Silostrukturen mit den Abteilungen Beratung, Kreation und Polygrafische Abteilung durch ein «crossfunctional»-Poolsystem ersetzt. Und am Dienstag, 17. März hat der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausgerufen. Was für ein Timing! Um es noch etwas Telenovela-mässig zu dramatisieren, musste ich mich am Montag auch noch einer komplexen Herzkatheter-Untersuchung stellen (alles ok!) und konnte deshalb nicht zur Arbeit erscheinen.
Nur gut, besteht die Valencia-Führung nicht aus mir alleine, sondern aus vielen fähigen Köpfen. Als eingespieltes Team haben wir also auch diesen Tag gemeistert. Und jetzt nach der Umstrukturierung ist die Verantwortung noch etwas breiter abgestützt. Die neuen strategischen Pools haben neue Kompetenzen erhalten. Aber auch neue Bürden. Wie schaffen wir da den idealen Mix? Diese und andere Fragen stellen sich täglich neu… Wir stecken noch mittendrin im agilen Prozess. Aber eben. Wer sich der Veränderung verweigert, der hat eh schon verloren. Und die Challenges machen ja auch Spass. Ich glaube, ich spreche hier für fast alle bei Valencia, wenn ich sage, wir haben mit Corona den schwerst denkbaren Start gehabt für ein radikales Projekt. Aber wir bereuen den eingeschlagenen Weg keine Sekunde. Höchstens, dass wir nicht schon viel früher gestartet sind.
Bonus für Serienfans
Michaels «Best of Serien» in den Bereichen Comedy, Animation und Drama.
Comedy
Afterlife von und mit Ricky Gervais. Nicht ganz so derb wie in seinen Shows. Weniger fremdschämen als bei «The Office» und den «Extras». Für Ricky-Verhältnisse eine richtig freundliche Show. Sehr empfehlenswert.
The good place mit Ted Danson (bekannt aus «Cheers») als Creator einer Stadt für Gutmenschen. Ich habe Ted schon bei seinen Kurzeinsätzen in der Kultserie «Curb your Enthusiasm» von Larry David (auf HBO) geliebt. Diese Rolle hier ist definitiv auf ihn zugeschnitten. Grossartige Unterhaltung mit gekonnten Story-Twists.
Dann war da auch noch die zweite Staffel von Derry Girls. Wow. Die nordirischen Mädels geben nochmals richtig Gas. Vermutlich muss man ein Irland-Fan sein, um das zu mögen. Aber vielleicht ist das ja der geneigte Leser oder die geneigte Leserin auch: dann unbedingt reinziehen. Schräg, grob und doch liebevoll.
Rita ist eine Mischung aus Comedy und Drama. Das trifft nicht nur auf die Serie als Ganzes, sondern auch auf die gleichnamige Protagonistin zu. Eine kleine aber feine Produktion aus Dänemark mit Feelgood-Garantie!
Animation
Ok, da muss ich warnen. Ich bin ein Vielseher. Meine Sehgewohnheiten ertragen auch Chaos. Wer das auch kann, wird Freude haben an (alle auf Netflix):
Disenchantment spielt in einer wunderbaren Märchenwelt. So wunderbar, dass ein grüner Elf, eine sehr freche Prinzessin und ein Teufel, welcher aber dauernd für einen schwarzen Kater gehalten wird, sich anfreunden können. Sehr lustig. Aber auch sehr absurd. Dritte Staffel erscheint im Januar. Yeah!
Bojack Horseman ist die Geschichte eines ehemaligen TV-Sitcom-Stars aus den 90ern, der es nach dem Ende der langjährigen Show irgendwie nicht mehr hinkriegt. Allerdings befinden wir uns in einer Parallelwelt und Tiere sind Teil unserer Gesellschaft. So zum Beispiel ist der Schauspieler Horseman ein Pferd. Und seine Managerin eine Katze. Diese Serie hat Humor und Tiefe. Es geht um alle grossen Themen wie Egoismus, Freundschaft und Liebe.
Rick & Morty. Das ist so ziemlich das Chaotischste, aber auch Fantasievollste, was es momentan auf Netflix gibt. In der amerikanischen Durchschnittsfamilie lebt auch Grossvater Rick mit. Er führt ein mehrfaches Doppelleben, denn er kann in Parallelwelten abtauchen und ist überhaupt ein ganz kluges Köpfchen. Dafür hat er (fast) keine Moral, muss ständig «gorpsen» und missbraucht die Freundlichkeit des an sich selbst zweifelnden Sohns der Familie, Morty, immer wieder.
Drama
Gomorrha, die italienische Kult-Serie über die neapolitanische Mafia, habe ich mir als DVD auf Italienisch mit Untertiteln angesehen. Es gibt sie aber auch in synchronisierter Fassung auf Sky. Die Milieus sind mit viel Liebe nachgezeichnet. Die Musik ist passend. Die Story gut erzählt. Trotzdem kommt keine Mafia-Romantik auf. Hier gibt es wie in der Wirklichkeit nur Verlierer. Grosses Kino! Boah!
Fauda. Mitunter etwas vom Besten was ich je gesehen habe. Auf Netflix in Originalsprache mit Untertiteln. Zum Teil etwas anstrengend, aber lohnt sich hier ganz sicher. Israelis, welche mit der arabischen Sprache aufgewachsen sind, arbeiten als verdeckte Ermittler im Westjordanland und in Gaza, um frühzeitig Terrorattacken abzuwehren. Schon nach wenigen Minuten denkt man, man sei auch drin im Fauda (arabisch für Chaos) und vergisst, dass es Fernsehen ist. Ein Druck der manchmal kaum auszuhalten ist.
Dann gibt es noch 3 relativ unbekannte Lonely-Wolf-Detektivgeschichten, welche ich hier empfehlen möchte. Alle auf Netflix:
Bordertown aus Finnland: Ein leicht autistisches Genie kämpft hier am Rande Europas fürs Gesetz und gegen die Korruption.
Broadchurch: Er wäre gerne ein Lonely Wolf, der für den Fall abkommandierte, schottische Detective Inspector Hardy. Aber die ehrgeizige, lokale Polizistin Ellie Miller lässt ihn nicht. Ein unkonventioneller Fall mit viel Tiefe.
Und dann ist da noch Hinterland. Überraschenderweise eine britische Serie. Denn Hinterland wurde 1888 ins Englische eingebürgert, als Ausdruck für abgelegene Gegenden. In diesem Fall handelt es sich um Wales. Die erste Episode ist leider meiner Meinung nach nicht ganz so gut wie die restlichen. Da muss man aber dranbleiben. Es lohnt sich. Die Serie ist ungewöhnlich langsam, mit wunderschönen Bildern und atmosphärisch sehr dicht erzählt. Man leidet mit dem Lonely Wolf. Und würde ihm gerne helfen gehen. Viel Spass dabei! Und frohe Festtage!